Uebersetzt und erklärt von Dr. E. Baneth, Rabbiner in Krotoschin.
Aus dem Traktat Sabbat kann als bekannt vorausgesetzt werden, dass es am Sabbat verboten ist, Gegenstände, die in einer רשות הרבים, einer רשות היחיד oder einer כרמלית sich befinden, aus dem einen in den andern dieser Räume zu schaffen. Beschäftigt sich doch die erste Hälfte jenes Traktats grösstentheils mit diesem Verbote. Auch innerhalb einer רשות הרבים oder einer כרמלית darf man 4 Ellen weit nichts tragen, was nicht zur Kleidung gehört, innerhalb einer רשות היחיד dagegen ist der Verkehr nach dieser Richtung hin in keiner Weise eingeschränkt, und wäre es ein noch so grosser, ja selbst öffentlicher Raum wie z. B. eine Synagoge, oder gar eine rings mit Mauern umgebene Millionenstadt, deren Thore auch nur des Nachts geschlossen sind. Doch muss man auch hier zwischen geschlossenen Räumen, die zu unserer ausschliesslichen Verfügung sind, und solchen, deren Besitz oder Benutzungsrecht wir mit Anderen theilen, unterscheiden. Nur innerhalb einer und derselben רשות היחיד ist das „Tragen“ keiner Beschränkung unterworfen. Der Zwischenverkehr aber ist hier noch mehr erschwert als selbst zwischen einer כרמלית und der andern, ja selbst zwischen einer רשות הרבים und der andern. Während in diesem Zwischenverkehr wenigstens innerhalb der 4 Ellen das „Tragen“ erlaubt ist, dürfen wir nichts aus unseren Privaträumen in die eines Andern, ja nicht einmal in solche, deren Mitbesitzer wir sind, auch nur einen Schritt weit tragen. Zwei Nachbarn dürfen keinen Gegenstand aus ihrer Wohnung in den gemeinschaftlichen Flur, ans diesem in ihre Wohnung schaffen. Der von allen Seiten umschlossene Hofraum ist eine רשות היחיד, auf welche alle Einwohner gleiches Anrecht haben. In ihm befindliche Gegenstände dürfen nach Belieben von einem Ende des Hofes nach dem andern geschafft werden, da das „Tragen“ innerhalb einer und derselben רשות היחיד keiner Beschränkung unterliegt, und wäre es auch ein Mehreren gemeinsamer Privatraum; nicht aber dürfen dieselben aus dem Hofe in eine der zu ihm gehörigen Wohnungen, vielweniger in eine der Wohnungen des Nachbarhofes getragen werden. Ebenso wenig darf man Gegenstände aus der Wohnung nach dem eigenen Hofe, geschweige denn nach dem Hofe eines Andern schaffen, auch wenn man sie nicht über die Strasse tragen müsste, es sei denn, dass sämmtliche Einwohner eines oder auch mehrerer durch eine Thür oder Leiter in Verbindung stehender Höfe nur eine Familie bilden. In diesem Falle ist das Familienoberhaupt alleiniger Inhaber des ganzen Hofes bez. Höfecomplexes, die übrigen Bewohner desselben, welche von seiner Tafel ihren Unterhalt bekommen, sind nur seine Hausgenossen, obgleich jeder von ihnen seine eigenen Räume bewohnt. Die nächsten Angehörigen eines Hausvaters bilden mit der Dienerschaft eo ipso eine solche Familie; es können aber auch fremde, untereinander nicht verwandte und auch in keinem Dienstverhältniss zu einander stehende Inhaber verschiedener Wohnungen eines Hofes oder Höfecomplexes sich ad hoc zu einer Familie vereinigen, indem sie Einen von ihnen zum Hausvater wählen und dadurch, dass sie ihr Brot vor Beginn des Sabbats zu ihm bringen, zu erkennen geben, dass sie gleichsam an seiner Tafel speisen, mithin als seine Hausgenossen sich betrachten wollen, so dass alle ihre sonst getrennten Wohnräume am Sabbat zu einer einzigen, Allen gemeinsamen Wohnung, zu einer und derselben רשות היחיד sich verschmelzen. Eine so intensive Vereinigung heisst עירוב Vermischung, Verschmelzung. Sie ermöglicht den einzelnen Einwohnern, nach Belieben Gegenstände des Hofes in ihre Wohnungen und umgekehrt hinüber zu schaffen. — Hat aber auch nur Einer derselben an dieser Vereinigung nicht theilgenommen, so dürfen auch die übrigen nichts hinein- oder hinaustragen, es sei denn, dass jener auf sein Besitzrecht für diesen Tag zu ihren Gunsten verzichtet.
Was eben von der Vereinigung zu einer Familie (עירוב) gesagt wurde, gilt auch vom Societätsverhältniss (שיתוף). Zwei oder mehrere Personen, welche einen gemeinsamen Haushalt führen, können aus der Wohnung, die jede von ihnen für sich allein inne hat, in den gemeinschaftlichen Flur, Hof oder Höfecomplex herüber und hinübertragen, falls sie keinen Fremden zum Miteinwohner haben. Wo ein solches Verhältniss nicht von vornherein in Wirklichkeit besteht, kann es vor Beginn des Sabbat ad hoc geschaffen werden, indem sämmtliche Theilnehmer ihre Zusammengehörigkeit in ähnlicher Weise wie beim עירוב zum Ausdruck bringen; nur dass dieselbe hier, wo das Verhältniss lange nicht so innig als beim עירוב ist, nicht ausschliesslich durch Brod, sondern durch fast jedes Nahrungsmittel bekundet wird, welches dann auch nicht, wie beim עירוב, in einem bewohnten Raume, sondern blos im Hofraum aufbewahrt werden muss. Diese ihrer Natur wie ihrem ganzen Charakter nach weniger intensive Vereinigung ist dafür um so extensiver. Sie findet ihre Anwendung bei der Bildung eines Societätsverhältnisses unter sämmtlichen Bewohnern einer oder mehrerer Strassen (שיתופי מבואות), welches ihnen ermöglichen soll, Gegenstände aus ihren Häusern und Höfen auf die Strasse und über diese hinweg in die Häuser und Höfe ihrer Nachbarn zu tragen, während für die weniger umfangreiche Vereinigung sämmtlicher Bewohner einer oder mehrerer in unmittelbarer Verbindung stehender Höfe die Form des עירוב vorgeschrieben ist, die innigere Verschmelzung zu einer Familie (עירובי חצרות). Beide Arten der Vereinigung sind nur dem Grade, nicht dem Wesen nach verschieden. —
Da aber jede Strasse im günstigsten Falle eine ברמלית ist, so dass die in ihr befindlichen Gegenstände selbst innerhalb derselben nicht 4 Ellen weit, viel weniger in die Höfe und Häuser getragen werden dürfen, so muss dieselbe erst in eine רשות היחיד überhaupt umgewandelt werden, ehe man daran denken kann, sie mit all ihren Höfen und Wohnungen zu einer und derselben רשות היחיד zu machen. Dem שיתוף muss also eine jener Vorkehrungen vorangehen, welche, an allen Eingängen einer Strasse vorschriftsmässig angebracht, derselben den Charakter einer רשות היחיד verleihen. Von diesen und ähnlichen Vorkehrungen handelt das 1. und 2. Kapitel unseres Traktats.
Das 3.—5. Kapitel beschäftigt sich mit dem תחום, der Grenzlinie, bis zu welcher man sich an Sabbat- und Festtagen von seinem Wohnorte entfernen darf. Dieselbe wird für jede einzelne Ortschaft durch genaue Messungen festgestellt, die von einem Fachmanne (מומחה) geleitet werden. Zu diesem Behufe wird zunächst um das ganze Weichbild des Ortes ein Rechteck construirt, dessen Seiten parallel sind dem „Weltquadrate“ (רבוע העולם), einem imaginären, dem Horizonte des betreffenden Ortes so umschriebenen Quadrate, dass die Mittelpunkte seiner 4 Seiten (die 4 Berührungspunkte) mit dem Ost- Süd- West- und Nordpunkte des Horizontes zusammenfallen. Das Weichbild eines Ortes (עיבורה של עיר) ist ein schmaler Streifen Landes, welcher nach innen von der äussersten Kante der letzten Häuser begrenzt wird, nach aussen aber von einer Linie, die sich in einer constanten Entfernung von 70⅔ Ellen rings um den Ort zieht. Diese Linie stellt natürlich eine den verschiedenen Bebauungsplänen verschiedener Ortschaften entsprechend wechselnde, in den meisten Fällen unregelmässige Figur dar. Durch die äussersten Punkte dieser Figur werden die Linien gezogen, welche das erwähnte Rechteck bilden, dessen Seiten nun nach beiden Richtungen um je 2000 Ellen verlängert werden (die Elle hat in unserm ganzen Traktate wie in den Traktaten Kilajim und Sukka 6 Handbreiten od. 24 Daumenbreiten; 1 D.=2 cm.) So entseht auf den 4 Seiten der Ortschaft je eine Fläche (Sabbatbezirk), deren Länge der angrenzenden Seite des Rechtecks entspricht, deren Breite aber stets 2000 Ellen beträgt. An den 4 Enden, da wo je zwei dieser Flächen zusammenstossen, bilden sich daher 4 Quadrate von je 2000 Ellen im Geviert, welche auch noch zum Sabbatbezirk gehören, und da die Diagonale eines Quadrats um etwas mehr als ⅖ grösser ist als jede Seite desselben [nach dem Pythagoräischen Lehrsatz ist das Quadrat der Hypotenuse gleich den Quadraten der beiden Katheten, mithin die Diagonale eines Quadrats = , oder ungefähr
, dessen Quadrat (
) ja nur um 0,04 kleiner ist als 2], so kann man in der Diagonale des תחום
Ellen an Sabbat- und Festtagen gehen. In dringenden Fällen ist es gestattet, das erwähnte Rechteck so zu zeichnen, dass seine verlängerte Diagonale durch zwei der 4 genannten Punkte des Horizontes geht, um sich selbst in gerader Richtung, den Seiten des „Weltquadrates“ parallel, 2800 Ellen von seinem Wohnort entfernen zu dürfen. Um jenseits des תחום ein religiöses Gebot am Sabbat- oder Festtage erfüllen zu können, ist es sogar erlaubt, vor Beginn desselben seinen Wohnsitz für den betreffenden Tag nach einem Orte zu verlegen, welcher sowohl von dem gewöhnlichen Wohnorte, als auch von der Station, an welcher das Gebot erfüllt werden soll, erreichbar ist, also zwischen Beiden so liegt, dass er von keinem der beiden Punkte mehr als 2000 bez. 2800 Ellen entfernt ist. Wie diese Verschmelzung der Sabbatbezirke zweier 4000 bez. 5600 Ellen von einander entfernter Ortschaften zu einem Sabbatbezirk, עירוב תחומין, bewerkstelligt wird, welche Consequenzen sie hat, wie die Messungen vorzunehmen sind, und welche Folgen das Ueberschreiten des תחום hat, darüber handelt das 3.—5. Kapitel unseres Traktats. Das 6.—9. beschäftigt sich mit עירובי חצרות und שיתופי מבואות; das 10. bespricht den Verkehr zwischen רשות היחיד und רשות הרבים, unter welchen Voraussetzungen derselbe gestattet ist. Seinen Namen עירובין (Verschmelzungen) führt der Traktat von den beiden Arten des עירוב, welche er zum Gegenstande hat: עירובי תחומין und חצרות עירובי nebst שיתופי מבואות.